Die Vordere Grauspitze (2.599m) war bis vor wenigen Jahren ein kaum beachteter und selten bestiegener Berg. Dies änderte sich als ein gewisser Alexander Römer eine Liste der Seven Summits (englisch für 7 Gipfel) der Alpen erstellte, nach seiner Meinung die 7 jeweils höchsten Gipfel der Länder, welche geografisch zu den Alpen gehören. Gemäß seiner Liste wären das für Deutschland die Zugspitze(2.962m), für Österreich der Großglockner(3.798m), für Slowenien der Triglav(2.864m), für Italien der Gran Paradiso(4.061m), für Liechtenstein die Vordere Grauspitze(2.599m), für die Schweiz die Dufourspitze(4.634m) und für Frankreich der Mont Blanc(4.810).
Nach meiner eigenen Planung und gemeinsamer Durchführung mit Thomas Stäbler, also ohne Inanspruchnahme von Bergführern oder ähnlichen Wegbegleitern, sollte dies unser Fünfter von den Sieben sein und werden – wobei diese 7 Berggipfel eher zufällig unsere in all den Jahren angestrebten Ziele und Wünsche tangierten.
Die Vordere Grauspitze wartet nicht auf mit Wegweisern oder rot-weiß gepunkteten Wegmarkierungen, nein hier ist der eigene Weg noch das Ziel und diesen muss man erst einmal finden.
Anno 2013 waren wir schon einmal hier, auf der Schweizer Seite des Weges zum Berg und mussten auf dem Gipfel der Hinteren Grauspitze (2.574m) feststellen, dass wir nur den zweithöchsten Gipfel vom Fürstentum Liechtenstein erreicht hatten, auch auf einer eigenen Route durch deren Südwand damals. Die Zeit und Distanz erlaubten es uns seinerzeit nicht mehr den höheren der beiden Grauspitzen zu ersteigen. Von der auf 1.934m Höhe vorgelagerten Alp Iljes (Alp bedeutet im schweizerischen Alm), über welche man an die beiden Grauspitzen heran kommt, ist die Vordere Grauspitze nicht zu sehen. So erklommen wir damals den von der Alp Iljes aus sichtlich höchsten Gipfel, die Hintere Grauspitze.
Anno 2018 kamen wir erneut zum Berg. Dieses mal von der Nordseite, der Liechtensteiner Seite. Noch vor dem Betreten des Grates am Ijesfürggli (2.348m) gab Thomas Stäbler auf, wegen drohender Gewitterwolken. Im Alleingang erklomm ich abermals den Gipfel der Hinteren Grauspitze, nun über deren Nord- Ost- Grat auf für mich neuen Wegen, wagte aber den Weiterweg hinüber zur Vorderen Grauspitze aufgrund der Distanz und des instabilen Wetters dann auch nicht weiter.
Anno 2020 sollte es endlich so weit sein. Ein neuer Plan in meinem Kopf, nur das Wetter und die Freizeit sollten ebenso dazu passen. Wie schon 2013 näherten wir uns von der Schweizer Seite an den Berg. Dieses mal mit den Zelten und Proviant für 3 Tage im Rucksack, um genügend Zeit, Flexibilät und mit Genuss diese Tour absolvieren zu können. Oberhalb der Alp Iljes auf ca. 2.150m bauten wir unsere Zelte an einem Biotop auf.
Nach einer kühlen Nacht und einem Frühstück unter makellosem, blauen Himmel machten wir uns um 10 Uhr auf den Weg. Direkt hinter unseren Zelten, zuerst einen Grashang auf dessen Kante empor – später im Fels, auch in leichter Kletterei in Richtung einer Scharte (P. 2.304m)
Beim Erreichen der Scharte, von welcher aus ebenso ein Grat (SSW) zum Hinteren Grauspitz führt, hat man nun zum ersten mal den Blick frei auf die Vordere Grauspitze. Sie bietet von hier aus einen gewaltigen Anblick, der eine Ersteigung für den Hobbybergsteiger nicht erahnen lässt.
Thomas Stäbler:
„Wo ist der Berg, auf welchen du rauf willst, der dort drüben? Ich bin doch nicht lebensmüde“
Meine Antwort:
„Bleib doch nur ruhig, lass uns erst einmal ein Stück weit näher heran gehen, dort sieht es möglicherweise schon wieder ganz anders aus“
Tatsächlich las ich bereits im Vorfeld von anderen Aspiranten, dass der Anblick aus dieser Position nicht gerade einladend aussieht. Also folgt erst einmal entspannt der Abstieg zum Schafälpli (2.297m) und von da aus weiter durchs Kar, die Schneefelder umgehend zu den Südflanken der Grauspitze. Rast, Entspannen, Essen und Trinken beschäftigen uns die nächste viertel Stunde. Meine Sehnsucht und Spannung steigt mit jedem Moment. Ich kann es kaum erwarten endlich in die weglosen Flanken einzusteigen, einen Weg hinauf auf den Grauspitzsattel (2.502m) zwischen den beiden Grauspitzen, auf deren Verbindungsgrat zu finden. Thomas ist nun auch wieder guter Dinge und überzeugt davon, mit mir weiter zu gehen.
Es ist wahrhaft ein Genuss durch die weglose Flanke dem Grat entgegen empor zu steigen, und tatsächlich geht dies besser als es noch vor gut einer halben Stunde aus der anderen Position zu erahnen war. Rasch gewinnen wir an Höhe und mit Freude betrete ich den Grat. Nun weiter auf diesem in einer Genusskletterei mit herrlichen Tiefblicken bis zu einem Gendarm – einem Gratwächter. Hier bieten sich 2 Möglichkeiten, diesen zu überklettern oder linksseitig vorsichtig zu Umgehen. Ich wähle die 2. Variante. Man verliert dabei etwas an Höhe und muss dann im Anschluss eine steile, grasdurchwachsene Passage wieder empor klettern. Bei Regen oder feuchtem Untergrund ist diese sicher nicht so von Vorteil, weil das Gelände unterhalb der Passage äußerst steil mehrere Hundert Meter abfällt. So schaue ich mir beim wieder Erreichen des Grates die Variante über den Gendarm an und meine auf dem Rückweg besser diesen zu wählen. Tatsächlich werden wir für den Rückweg einen anderen Weg durch die Südwand finden.
Nun sind es nur noch wenige Minuten und Schritte dem Weiterverlauf des Grat empor und ich erreiche den höchsten geografischen Punkt des Fürstentum Liechtenstein – die Vordere Grauspitze. Ein schlichter Steinmann mit einer vorgelagerten Gipfelbuchkassette aus Edelstahl markieren diesen so bedeutenden Punkt.
Thomas Stäbler trifft ein, wir genießen Speis und Trank und den herrlichen Rundblick. So ganz allein bei dem so schönen Wetter auf diesem Berggipfel zu stehen, ein Geschenk. Aber der Gipfel ist fast immer nur der halbe Weg, so haben auch wir nun den Rückweg zu absolvieren.
Kurz vor der Passage des Gendarm finden wir einen direkten Weg durch die Flanke zum Absteigen. Schon bald erreichen wir wieder das vorgelagerte Kar und das Schafälpli. Nun wieder hinauf zur Scharte und abwärts geht es zu unseren Zelten. Dort angekommen, gönnen wir uns nach einer Stärkung eine 3 stündige Nachmittagsruhe.
Da der Bewegungsdrang noch nicht vollständig befriedigt ist, so schlage ich Thomas vor zur Alp Iljes hinab zu steigen und den Almenhirten einen Besuch abzustatten. Die Alp Iljes ist eine rein Viehwirtschaftliche Alm, sie ist also nicht auf die Verköstigung und Beherbergung von Wandersleuten eingestellt. Dennoch unsere Hoffnung dort unten ein Bierchen abstauben zu können und eventuell ein wenig mit den Leuten dabei zu plaudern. Doch es kam alles ganz anders.
Während unseres Abstieg zur Alm kreiste ein Helikopter suchend am Himmel. Nach einer Weile ging er am gegenüberliegenden Barthümeljoch (2.305m) herunter mit weiterhin rotierenden Rotorblättern, mehr konnte man aus unserer Position nicht erkennen. Wir stiegen weiter ab zur Alp Iljes. Nach einer Weile hob der Helikopter aus dem Joch wieder ab und landete bald darauf sehr vorsichtig, sich rantastent auf einem Plateau der weitläufigen Alp. Die Fläche der Alp ist durchzogen von vielen Wasserläufen und daher teils sehr sumpfig. Der Pilot wusste also was er tut, das war absolut offensichtlich – ein Profi war am Werk. Mein Abstieg zur Alp wurde nun schneller, in der Hoffnung das Fluggerät auch einmal aus der Nähe zu betrachten. Als ich an die 30 Meter in die Nähe des Helikopter kam, lief mir der Pilot schon entgegen und fragte im Schweizer Deutsch, ob ich der Hüttenwirt der Alm sei. Ich verneinte und teilte ihm mit das es sich bei uns um Wildcamper handelt, welche den schönen Tag genutzt hatten, zur Besteigung der Vorderen Grauspitze. Er erklärte mir das es sich bei seiner Landung oben am Joch um die Bergung eines Verunglückten handelt, dass er eine junge Notärztin und einen Bergretter soeben dort hinauf geflogen hat, und ob ich bereit sei später, bei der Verladung der verunglückten Person zum Abtransport ins Spital, auf der Alp mit anzupacken. Ohne zu zögern gab ich meine Bereitschaft zur Kenntnis. Er erläuterte mir kurz das Vorgehen, so sollte ich mich in ausreichender Entfernung bereit halten, während er wieder, gemäß der Order über Funk des Bergretters, hinauf zum Joch fliegen würde. Die beiden waren oben am Joch damit beschäftigt die verunfallte Person zu stabilisieren, in den Luftrettungssack zu lagern und den Abtransport vorzubreiten.
Zwischenzeitlich war auch Thomas eingetroffen. Ich erklärte ihm die Situation. Es dauerte eine ganze Weile ehe die beiden oben am Joch soweit waren den Helikopter wieder anzufordern. So plauderten wir mit dem Piloten und durften uns sogar vor dem Helikopter „Christoph Liechtenstein“ der Bergrettung Liechtenstein fotografieren lassen.
Dann kam das Signal und der Pilot startete seinen „Airbus Helicopters H 135“ und flog davon in Richtung des Barthümeljoch. Er nahm die Notärztin auf in die Kabine, die verunglückte Person sowie den Bergretter an das Tau und hob aus dem Joch ab. Während der Flugphase windete er das Tau mit den beiden auf die Höhe der Kufe des Helikopters um auf der Alp wieder landen zu können. Bei laufendem Rotor (der Pilot blieb im Cockpit) kam der Bergretter auf mich zu und gab mir wie besprochen das Handzeichen zum kommen. Er sah im Hintergrund auch meinen Kameraden Thomas Stäbler und zeigte mir 2 Finger entgegen, so wusste ich sogleich das auch Thomas seine Hilfe mit benötigt wird. Wir krochen unter den rotierenden Rotorblättern zur Eingangsseite am Helikopter, mit einem freundlichen Nicken begrüßte uns auch die Notärztin. Der Bergretter holte die feste Metalltrage aus dem Helikopter und alle 4 nahmen wir, jeder eine Ecke des Luftrettungssack und hoben die verunfallte Person auf die Metalltrage. Der Bergretter fixierte die Person mit Gurten an der Trage und wieder fassten wir 4 an und hoben die Trage in den Helikopter. So konnte der Abtransport ins Spital erfolgen. Mit Handzeichen bedankten sich der Bergretter und die junge Ärztin bei uns für die Hilfe und wir krochen unter den rotierenden Blättern wieder zurück zu unserem Standplatz und beobachteten weiter die Szenerie. Kurz darauf hob „Christoph Liechtenstein“ mit dem Cockpit nach vorn übergeneigt ab und der Pilot zeigte uns noch einmal „Daumen hoch“ und wir winkten zum Abschied.
Der Hirte der Alp verkaufte uns zwei Dosen „Calanda“ Bier und wir setzten uns auf einen, noch in der Abendsonne stehenden Felsen und genossen das Bierchen während es dämmerte. Dann ging es wieder hinauf zu unseren Zelten.
Am nächsten Morgen wollten wir eigentlich den Sonnenaufgang um 05:40 Uhr erleben, aber dieser ließ auf sich warten. So ging ich nach einer Stunde des Wartens wieder ins Zelt und schlief gemütlich bis 10 Uhr. Es zeigte sich nun, dass wir tatsächlich mit dem Wetter zum Sonntag, zur Besteigung der Vorderen Grauspitze, den besten Tag erwischt hatten.
So bauten wir nach einem letzten Frühstück in dieser so herrlichen Natur die Zelte ab, nahmen selbstverständlich all unseren Müll wieder mit und begannen den langen Weg zurück nach Malans, nicht ohne noch auf dem Weg dorthin den am Wegesrand stehenden Berg Kegel ~ 2.000m zu besteigen. Vom Kegel hatten wir noch einmal einen tollen Blick auf unsere Grauspitzen…
Thomas Heinz September 2020